Klara Butting - Sozialgeschichtliche Bibelauslegung

Geschwisterlichkeit steht in Frage

Die Frage, die zur Diskussion steht, ist grundlegend für menschliches Leben:

Ist gutes Zusammenleben von Menschen möglich? Ist Geschwisterlichkeit möglich? Nicht nur die Bibel sieht menschliches Leben unter dieser grundsätzlichen Herausforderung und erzählt davon in der Geschichte von Kain und Abel. Auch die römische Geschichtsschreibung erzählt von den Anfängen ihrer Gesellschaft als der Geschichte zweier Brüder, Romulus und Remus  - und auch dies ist die Geschichte eines Brudermordes. Ob Geschwisterlichkeit gelingt, das ist eine Grundfrage menschlichen Lebens. Dabei geht es auch, so wird in der Geschichte von Kain und Abel sichtbar, um das Zusammentreffen von Menschen in unterschiedlichen Machtpositionen.

Kain ist der erstgeborene Sohn. Er ist das zukünftige Haupt der Familie, der neue Patriarch. Er wird die Verantwortung für die Familie tragen und wird deshalb zweimal so viel erben, wie seine anderen Geschwister (Dtn 21,17) Seinen Namen, der von dem hebräischen Wort „erwerben“ herrührt (Gen 4,1), gibt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (1. Jahrhundert n.Chr.) mit dem Wort „Besitzer“ wieder. Auf ihn konzentriert sich die Erzählung. Er ist der Ansprechpartner Gottes. Abel spielt in der Erzählung eine Nebenrolle. Nirgendwo tritt er als selbstständig handelnde Person in Erscheinung. Er steht neben Kain als der Zweite. Sein Name, übersetzt: „Hauch, Nichts“, spricht seine Position aus. Abel – das Nichtschen.

Im Zusammenleben von Besitzern und Habenichtsen zeichnet sich die Gottheit der Bibel durch überraschende Parteilichkeit aus. „Selig ihr Armen“, so heißt es auch im Neuen Testament (Lk 6,20). Die Habenichtse dieser Erde stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit Gottes. In diesem Sinne sieht die Gottheit in der Geschichte von Kain und Abel ganz ähnlich wie in der Erzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11-32) – an dem, der sowieso im Zentrum steht, vorbei auf den Gefährdeten (Gen 4,4). Und Kain? Kain hat nichts falsch gemacht. Er wird nicht bestraft. Gott lehnt Kain auch nicht ab. Kain bleibt der Ansprechpartner Gottes, und Gott erwartet von seinem Partner, dass er sich – wie Gott selbst – auf den Kleinen konzentriert. Gott ist überrascht, dass Kain die Augen abwendet und sich ärgert (4,5). Gott ist wirklich überrascht, dass Kain sich über Gottes Zuwendung zu Abel empört. Warum, Kain? Warum freust du dich nicht mit mir über deinen kleinen Bruder? Die Erzähler/innen konfrontieren uns mit einem Gott, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass der Stärkere so wie Gott selbst die Schwächeren ins Zentrum stellt.

Gottes Frage

Die Geschichte von Kain und Abel geht nicht so aus, wie Gott es sich vorstellt. Kain ermordet seinen Bruder. Doch während Kain die Geschwisterschaft zerstört, wird in dem Einspruch Gottes das biblische Verständnis menschlicher Gottesbeziehung offenbar. Die Gottheit der Bibel ruft zur Verantwortung für den Bruder und die Schwester. Sie fragt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (4,9) Die Beziehung Gott-Mensch besteht darin, dass wir auf diese Frage nach unserem Mitmenschen eine Antwort geben. Bei unserem Glauben an Gott geht es also nicht um eine Beziehung zu Gott, und dann in zweiter Instanz kommen die ethischen Fragen, die Fragen der Menschlichkeit. Wenn Gott sich zu einem Menschen in Beziehung setzt, verkörpert er gegenüber diesem Menschen die Frage nach dem oder der anderen. Die Beziehung Gott-Mensch heißt, dass wir leben als Menschen, die rechenschaftspflichtig sind über das Wohlergehen ihrer Geschwister.

Lamechs Antwort

Ist die anfangs gestellte Frage, ob geschwisterliches Miteinanderleben möglich ist, durch die Erzählung von Brudermord ad absurdum geführt? Zuerst scheint das der Fall zu sein, denn die Geschichte nimmt ihren Lauf, so wie es zum Beispiel auch die römische Geschichtsschreibung darstellt. Nach der Gründungslegende Roms prägt Romulus, der seinen Bruder Remus ermordet hat, den weiteren Verlauf der Geschichte. Das Recht des Stärkeren, nicht die Menschenrechte, machen Geschichte. Romulus hat sich durchgesetzt, er nimmt Einfluss auf das Weltgeschehen, er wird Gründer und Stammvater der Stadt Rom. Und so heißt es auch von Kain „er wurde der Erbauer einer Stadt“ (4,17).

Kain pflanzt sich fort und unter seinen Nachfahren sind große Männer, die die Geschichte bestimmen. Der Stammvater der Nomaden, „der Vater aller Besitzer von Zelten und Herden“ wird erwähnt (4,20). Ein Mann, der die Kulturgeschichte entscheidend prägte, „der Vater aller Spieler auf Harfen und Flöte“, gehört zu Kains Nachkommen (4,21). Auch der Mann, der den Fortschritt von Technik, Handwerk und Kriegskunst vorangebracht hat, „der Schärfer aller Schneide aus Erz und Eisen“ geht aus Menochs Geschichte hervor (4,22). So scheint die Welt nun einmal zu funktionieren. Einer stirbt, aber Technik, Hochkultur und Fortschritt gehen voran. Die Menschheitsgeschichte entwickelt sich weiter, auch wenn einige, so wie Abel, auf der Strecke bleiben. In dieser Kultur der Stärke blüht die Religion. Lamech, Menochs Urururenkel, singt seinen Frauen Heldenlieder: „Einen Mann töte ich für eine Wunde, einen Knaben töte ich für eine Strieme“ (4,24). Er lobt Mannestum und Gewalt und singt: „Siebenfach wird Kain gerächt, aber siebenmal siebzigfach Lamech“ (4,24). Sein Gesang offenbart eine – auch im Christentum bekannte Verkehrung der Gnade Gottes zum Privileg der Begnadeten. So wie das Kreuz ergriffen und als Schwert geführt wurde, so pervertiert das Schutzzeichen, das Kain bekommen hat, zur Barbarei. Gottes Gnade, die Kains Leben schützen will, wird zum Heldengesang, der dem Leben heldischer Männer übermenschlichen Wert bemisst. Religion legitimiert die Macht dessen, der sich durchsetzt.

Evas Antwort

Das letzte Wort in der Geschichte ist deshalb allerdings nicht gesprochen. Deshalb ist die Perikopenabgrenzung bei Gen 4,16a ausgesprochen unglücklich. Sie fördert die resignierte Weltsicht, als sei der Schutz, den Gott dem Mörder gewährt, das Letzte, was Gott in dieser Sache unternimmt. Doch damit endet die Geschichte nicht. Vielmehr bekommt Eva am Ende noch einmal ein Kind und protestiert anlässlich der Geburt des Kindes gegen den Lauf der Dinge, der den Mächtigen Recht gibt. „Sie gebar einen Sohn und rief seinen Namen: Set, Setzling! Denn: „Gesetzt hat Gott mir einen andern Samen an Abels Stelle, weil Kain ihn erschlug“ (4,25).

Eva gab ihrem Kind einen sehr ungewöhnlichen Namen. Sie nannte ihn Set, was bedeutet Setzling oder besser Stellvertreter. Eva akzeptiert den Tod Abels nicht. Sie will, dass ein Stellvertreter Abels in der Welt lebt, der an Abels Stelle gegen Gewalt und Unrecht protestiert. Die Frage, ob gute geschwisterliche Gemeinschaft möglich ist, wird als nicht philosophisch verneint oder bejaht, sondern in Evas praktischen Engagement beantwortet, das Abel nicht verloren gibt und davon überzeugt ist, dass auch für Gott die Geschichte mit dem Tod Abels nicht abgeschlossen ist.

Mit diesem Set, dem Stellvertreter Abels, geht die Geschichte, die die Bibel erzählt, weiter. Er ist der Stammvater Abrahams, Israels, Jesu. Anders als in der römischen Geschichtsschreibung wird die Linie des Ermordeten nicht die des Siegers weitererzählt. Eine Grundentscheidung der Bibel wird sichtbar. Sie will die Geschichte der Opfer erzählen. Der gemordete Bruder soll unter uns Menschen aufstehen und unser Miteinanderleben bestimmen, bis kein Mensch mehr von einem anderen Menschen Gewalt erleidet. Evas Hoffnung und Protest, die sie im Namen Set ausspricht, sind ein Paradigma der biblischen Botschaft, dessen grundlegende Bedeutung sichtbar wird, wenn wir uns die Taufe als eine der Zeichenhandlungen vor Augen führen, mit denen wir die biblische Botschaft zusammenfassen. Frauen und Männer, die ein Kind zur Taufe bringen, tun genau das, was Eva bei der Geburt Sets getan hat. Überzeugt davon, dass Gottes macht den Tod bestreitet, stellen sie das Kind in die Fußspuren des Ermordeten. Lebenszerstörende Gewalt wird mit dem Wasser der Taufe sichtbar gemacht. Symbolisch werden wir mit der Gewalt konfrontiert, die Jesus das Leben kostete. Dabei wird unser Name mit dem Namen Gottes verbunden. Ich taufe dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir bekommen einen neuen Namen: Christ, Christin. In einer Zeichenhandlung stellen wir dar, dass Gott uns aus der Gefahr, die das Wasser darstellt, errettet, und werden zu Stellvertretern und Stellvertreterinnen Jesu auf Erden. Wir sollen Jesus unsere Hände und Füße geben und an seiner Stelle gegen Gehässigkeit und Ausgrenzung einschreiten. So inszeniert die Taufe die biblische Identität, die Eva ihrem Kind mit dem Namen Set zuspricht. Der Streit gegen alle Gewalt, die Leben kaputt macht, und die von Gott erhoffte Überwindung des Todes gehören nun zu der Persönlichen Geschichte jedes und jeder Einzelnen und sollen in seiner/ihrer Geschichte Gestalt gewinnen.

Ein Nachwort wird zum Vorwort

Als Nachwort des Brudermordes werden zwei Skizzen angefertigt. Zuerst wird mit der Geschichte Kains die Weltgeschichte als Siegergeschichte skizziert. Dann wird auch die Geschichte, die mit Evas Protest ihren Anfang nimmt, ganz kurz skizziert und die Geschichte entworfen, die die Bibel dann in vielen Erzählungen entfaltet: „Auch Set wurde ein Sohn geboren; er rief seinen Namen Enosch, Menschlein. Damals begann man den Namen GOTTES zu rufen“ (4,26).

Die Geburt eines Kindes wird noch einmal zum Anlass genommen, der Zukunft einen Namen zu geben. Die biblische Zukunft heißt: Menschlein. Unter all den großen und berühmten Männern, unter den Nachfahren Kains, soll ein Mensch leben und überleben können. Diese Einsicht, dass es in der Geschichte um Menschlichkeit und Solidarität geht, wird von den Erzählenden mit der Erkenntnis Gottes verbunden.

Damals begann man den NAMEN Gottes zu rufen.“ Merkwürdig sind diese Zeilen, denn von dem Gott, dessen Namen JHWH ist, war bereits die Rede gewesen. Er hat sich im Garten Eden bewegt, dort Adam und Eva angesprochen, und die beiden haben ihm geantwortet. Dieser Gott hat Kain angesprochen, um den Mord an Abel  zu verhindern, und Kain hat diesem Gott geantwortet. Es wird also von Beziehung und Begegnung von Gott und Menschen erzählt, aber trotzdem notieren die Erzähler/innen erst an dieser Stelle: „Damals begann man den Namen, JHWH, den Ewigen, zu rufen, ihn anzurufen.“ Trotzt aller Begegnung von Gott und Menschen, die berichtetet wird, wird das menschliche Begreifen des Wesens und Namens Gottes mit einem bestimmten Engagement in der Geschichte verbunden, nämlich mit dem Einsatz dafür, dass ein Menschlein auf dieser Erde leben kann.