Der Dritte Weg Jesu

Der Dritte Weg Jesu

von Walter Wink

Walter Wink, geb. 1935, ist Professor für neutestamentliche Theologie am Auburn Theological Seminary in New York. Er ist aktives Mitglied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, kämpfte gegen den Vietnamkrieg und unterstützte die Kampagne zur nuklearen Abrüstung. Südafrika besuchte er im März und April 1986. Der folgende Text ist ein Auszug aus seinem 1988 auch in Deutschland erschienen Buch: Angesichts des Feindes. Der Dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo. Durch das Aufzeigen eines »dritten Weges« offenbart der Autor eine dritte Möglichkeit als Reaktion auf das Böse; er setzt der Alternative »Kampf« oder »Flucht« die der militanten Gewaltlosigkeit entgegen. Das Buch wurde innerhalb kürzester Zeit eines der meist gelesenen Bücher Südafrikas. Dem deutschen Publikum bekannt wurde Wink durch seine unkonventionelle »Bibelauslegung als Interaktion« aus dem Jahre 1976 (auf Deutsch erschienen als »Bibelarbeit – Ein Praxishandbuch für Theologen und Laien«, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1982).

Viele ansonsten fromme Christen und auch viele von denen, die ihr Leben für den Kampf gegen die Apartheid einsetzen, tun die Aussagen Jesu über Gewaltlosigkeit kurzerhand als nicht praktikablen Idealismus ab - und das mit guten Gründen. »Die andere Backe hinhalten«, das erinnert an jene sattsam bekannte passive »christliche« Fußabstreifer-Mentalität, die immer wieder viele Christen gegenüber dem Unrecht feige und damit zu Komplizen des Bösen gemacht hat. »Widersetzt euch dem Bösen nicht«, das scheint tatsächlich jeder Opposition gegenüber dem Bösen den Rückhalt zu nehmen und stattdessen Unterwerfung anzuempfehlen. »Die zweite Meile gehen«, das ist zur Plattitüde geworden, die, so scheint es, eine gewisse trottelige Gutmütigkeit fördert und eher zur Kollaboration mit dem Unterdrücker ermutigt als zur Mitarbeit an Strukturveränderungen. Jesus selbst hat sich offensichtlich niemals auf diese Weise verhalten. Woher auch immer das Missverständnis rührt - es kann sich gewiss nicht auf Jesus oder auf seine Lehre berufen. Wenn man sich die Mühe macht, auf seine Worte in ihrem ursprünglichen sozialen Zusammenhang zu hören, dann handelt es sich zweifellos um eine der radikalsten politischen Aussagen, die je gemacht wurden: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Ein Auge für ein Auge und einen Zahn für einen Zahn. Aber ich sage euch: setzt dem, der böse ist, keine Gewalt entgegen. Sondern wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin; wenn dich jemand verklagt und deinen Mantel fordert, dann lass ihm auch dein Untergewand; wenn dich einer zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei Meilen. (Mt 5,38-41) Als die alten Übersetzer das griechische Zeitwort anthistenai (eine Ableitung von anthistemi) mit der Formulierung »widersetzt euch nicht dem Bösen« wiedergaben, taten sie etwas mehr, als das Griechische wortgetreu zu übertragen. Sie machten vielmehr aus gewaltfreiem Widerstand pure Unterwürfigkeit. Jesus aber forderte seine unterdrückten Zuhörerinnen und Zuhörer nicht auf, das Böse widerstandslos hinzunehmen. Das wäre absurd gewesen. Sein gesamtes Wirken steht in krassem Widerspruch zu solch einer grotesken Idee. Das griechische Wort besteht aus zwei Teilen: Aus anti - einer Vorsilbe, die auch wir im Sinne von »gegen« gebrauchen, und aus histemi, einem Zeitwort, das in seiner substantivischen Form (stasis) so viel wie »gewaltsamer Aufstand, bewaffnete Revolte, scharfe Auseinandersetzung« bedeutet. So wird Barrabas als Rebell beschrieben, der »während des Aufruhrs gemordet hatte« (Mk I5,7; Lk 23,19.25).

Die Stadtbewohner von Ephesus »laufen Gefahr, wegen Aufruhrs verklagt zu werden«. (Apg 19,40) Der Ausdruck bezieht sich also in der Regel auf eine potentiell gewalttätige Störung oder auf eine bewaffnete Revolution. Eine angemessene Übersetzung würde deshalb lauten: »Zahle das Böse (oder: dem, der dir Böses getan hat) nicht mit gleicher Münze heim! Setz auf den groben Klotz keinen groben Keil! Vergelte nicht Gewalt mit Gewalt!« Jesus war dem Widerstand gegen das Böse nicht weniger verpflichtet als die anti-römischen Widerstandskämpfer. Er unterschied sich von ihnen nur in der Wahl der Mittel, die er anwendete, also darin, wie er das Böse bekämpfte. Es gibt drei mögliche Reaktionen auf das Böse: 1. Passivität, 2. Gegengewalt - oder 3. den Weg militanter Gewaltlosigkeit, wie ihn Jesus gefordert und vorgelebt hat. Die Entwicklung der Menschheit hat uns nur für die Ersten beiden Möglichkeiten konditioniert: Flucht oder Kampf. »Kampf«  war die Parole jener Galiläer gewesen, die - nur zwei Jahrzehnte bevor Jesus auftrat - erfolglos gegen Rom rebelliert hatten. Jesus und viele seiner Zuhörerinnen und Zuhörer hatten zweifellos mit angesehen,wie zweitausend ihrer Landsleute von den Römern an den Straßenrändern gekreuzigt worden waren. Oder sie hatten Einwohner von Sapphortis gekannt (einem Ort, der nur 25 Kilometer nördlich von Nazareth lag), die in die Sklaverei verkauft worden waren, weil sie den Anschlag der Aufständischen auf das dortige Zeughaus unterstützt hatten. Für diese Menschen hatte es keinen Dritten Weg gegeben. Unterwerfung oder Revolte - darin erschöpfte sich das Vokabular ihrer Möglichkeiten im Widerstand gegen die Unterdrückung.

Heute können wir deutlicher sehen, was dahinter steckte, als obrigkeitshörige Bibelübersetzer für anthistenai »widersetzt euch nicht« wählten. Die Obrigkeit hatte kein Interesse daran, ihre Untertanen zu dem Schluss gelangen zu lassen, sie könnten bei ihrem Aufbegehren gegen staatliche Unrechtspolitik biblische Rückendeckung haben. Deshalb musste der Bevölkerung weisgemacht werden, dass es zwei - und nur zwei! - Möglichkeiten gibt: Flucht oder Kampf, Widerstand leisten - oder keinen Widerstand leisten. So erscheint Jesus wie einer, der obrigkeitlichen Absolutismus unterstützt und lehrt, dass Unterwerfung dem Willen Gottes entspricht. Die meisten modernen Übersetzungen sind übrigens treu und brav in diesem Fahrwasser geblieben.

Keine dieser beiden scheußlichen Alternativen hat etwas mit dem zu tun, was Jesus vorschlägt. Es ist wichtig, dass wir uns an diesem einen Punkt völlig klar sind, bevor wir fortfahren: Jesus lehnt Passivität und Gewalt als Antwort auf das Böse gleichermaßen ab. Seine Alternative beschreibt einen Dritten Weg, der von diesen Ersten beiden Möglichkeiten nicht einmal berührt wird. Anthistenai könnte man wahlweise übersetzen mit »Greife gegen das Böse nicht zur Waffengewalt!« »Handle nicht einfach im Reflex auf das Böse!« oder »Nimm an dem, der dich übel behandelt, keine Rache!« Die Aufforderung Jesu kann aber nicht so gedeutet werden, als ginge es um Unterwerfung. Jesus verdeutlicht sein Verständnis von Gewaltlosigkeit durch drei kurze Beispiele:

»Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!« Weshalb ausgerechnet die rechte Backe? Wie schlägt man überhaupt einen anderen auf die rechte Backe? Versuchen Sie das einmal! Der Schlag eines Rechtshänders mit der rechten Faust landet in der Regel auf der linken Wange seines Gegners. Ein Faustschlag auf die rechte Wange müsste ein linker Haken sein. Aber in der damaligen Gesellschaft pflegte man die linke Hand nur zu unreinen Verrichtungen zu benutzen. In der religiösen Gemeinschaft von Qumran (Qumran ist der Name einer Siedlung, die circa 200 v. Chr. in der Wüste am Ufer des Toten Meeres von einer jüdischen Gruppe errichtet wurde, die als »Gesetzestreue« abseits des offiziellen Judentums lebte. In den Höhlen von Qumran wurden Schriftrollen gefunden, die biblische und nicht-biblische Texte enthielten. 1 QS bezeichnet die Fundstelle in der »Gemeinderegel«, in der ein ausführlicher Strafkodex aufgeführt ist (Anm. d. Red.)) brachte einem schon eine Drohgebärde mit der linken Hand eine zehntägige Strafbuße ein (Schriftrollen vom Toten Meer, 1 QS 7). Nur mit der rechten Rückhand könnte man sein Gegenüber auf die rechte Backe schlagen. Es geht hier also zweifellos nicht um einen Faustkampf, sondern um eine Beleidigung. Die Absicht besteht offensichtlich nicht darin, zu verletzen, sondern zu demütigen und Untergebene auf ihren Platz zu verweisen. Einen Gleichrangigen pflegte man nicht zu schlagen; wenn man es doch tat, war die Strafe exorbitant: 4 Zuz (Zuz war ein unter Juden übliches Zahlungsmittel (Anm. d. Red.)) war die Strafe, wenn man einen Gleichrangigen mit der Faust schlug, und sogar 400 Zuz, wenn das mit der Rückhand geschah; schlug man hingegen einen Untergebenen, so wurde das überhaupt nicht strafrechtlich geahndet - so Mischna, Baba Kamma 8, 1-6. Aber es war gang und gäbe, auf diese Art Untergebene zu züchtigen. Sklavenhalter schlugen mit der Rückhand ihre Sklaven, Ehemänner ihre Frauen, Eltern ihre Kinder, Römer Juden.

Ein Schwarzafrikaner erzählte mir, wie in seiner Jugendzeit weiße Farmer ihre ungehorsamen Arbeiter noch immer mit der Rückhand zu züchtigen pflegten. Es handelt sich hier also um Beziehungen zwischen Ungleichen; Vergeltung mit gleichen Mitteln wäre in jedem Fall selbstmörderisch! Deswegen ist es wichtig zu fragen, wie eigentlich die Zuhörerschaft Jesu zusammengesetzt war. Die Zuhörerschaft Jesu besteht jedenfalls nicht aus solchen, die schlagen, vor Gericht ziehen oder andere zu Zwangsarbeit verpflichten, sondern aus den Opfern (»Wenn dich jemand schlägt ... vor Gericht zieht ... zwingt, eine Meile zu gehen«). Ein Teil der Verwirrung über diesen Abschnitt aus der Bergpredigt entspringt dem Versäumnis, nach der Zuhörerschaft Jesu zu fragen. Es handelt sich bei allen Beispielen um Mitglieder jener Gruppen, die solchen Entwürdigungen ständig ausgesetzt waren. Sie mussten ihre Wut über die menschenunwürdige Behandlung ständig wegstecken, die ihnen seitens der kaiserlichen Besatzungsmacht und seitens des hierarchischen Systems von Kaste und Klasse, Rasse und Geschlecht, Alter und Status permanent zuteil wurde.

Weshalb empfiehlt Jesus diesen - ohnehin genügend gedemütigten - Menschen, die andere Backe hinzuhalten? Weil genau dies den Unterdrücker seiner Möglichkeit beraubt, sie zu demütigen! Die Person, die die andere Backe hinhält, sagt damit: »Versuch es noch einmal! Dein erster Schlag hat sein eigentliches Ziel verfehlt. Ich verweigere dir das Recht, mich zu demütigen. Ich bin ein Mensch wie du. Dein Status (Geld, Geschlecht, Rasse, Alter) ändert nichts an dieser Tatsache. Du kannst mich nicht entwürdigen.« Solch eine Reaktion bringt den Angreifer in enorme Schwierigkeiten. Schon rein praktisch wird es kompliziert: Wie soll er auf die andere Backe seines Opfers einschlagen? Nimmt er die Faust, dann erkennt er den anderen oder die andere als ebenbürtig an. Aber der Sinn des Rückhandschlags war ja gerade, das Kastensystem und seine institutionalisierte Ungleichheit zu bestätigen! Selbst wenn er jetzt den Befehl erteilt, das Opfer auspeitschen zu lassen - dieser eine Punkt ist unwiderruflich klargestellt worden. Der Angreifer ist gegen seinen Willen gezwungen worden, sein Gegenüber als gleichwertigen Mitmenschen zu betrachten. Ihm ist die Macht genommen, sein Opfer zu entwürdigen.

Das zweite Beispiel, das Jesus anführt, spielt sich vor Gericht ab. Jemand wird darauf verklagt, seinen oder ihren Mantel herzugeben. Wer könnte so etwas tun und unter welchen Umständen? Der Schlüssel zur Antwort findet sich im Alten Testament: Wenn du Geld an einen aus meinem Volk verleihst, an einen Armen neben dir, dann sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zins von ihm nehmen. Wenn du den Mantel deines Nächsten als Pfand nimmst, sollst du ihn vor Sonnenuntergang zurückgeben, denn sein Mantel ist die einzige Decke für seinen Leib; worin soll er sonst schlafen? Wird er aber zu mir schreien, so will ich ihn erhören; denn ich bin gnädig (2. Mose/ Exodus 22,24-26). Wenn du deinem Nächsten irgendetwas borgst, dann sollst du nicht in sein Haus gehen, um ein Pfand zu nehmen. Bleib draußen stehen. Der, dem du borgst, soll dir das Pfand herausbringen. Ist er aber arm, so lege dich nicht in seinem Pfand schlafen, sondern gib es ihm bei Sonnenuntergang zurück. So wird er in seinem Mantel schlafen und dich segnen ... Nimm nicht das Kleid einer Witwe als Pfand! (5. Mose/ Deuteronomium 24,10-13.17b). Sie treten den Kopf der Armen in den Staub ... Bei allen Altären schlemmen sie auf gepfändeten Kleidern (Am 2,7a,8a). Nur die Ärmsten der Armen hatten nichts als ihr Obergewand, um es einem Prozessgegner als Pfand zu lassen. Das jüdische Gesetz verlangte unerbittlich die allabendliche Rückgabe des Mantels bei Sonnenuntergang, denn die Armen hatten sonst keinerlei Zudecke. Die Situation, die Jesus anspricht, dürfte seinen Zuhörerinnen und Zuhörern nur allzu vertraut sein: Der verarmte Schuldner ist immer tiefer in Schulden versunken, die nicht zurückgezahlt werden können. Der Gläubiger zerrt ihn vor Gericht und versucht, mit allen Rechtsmitteln die Zahlung zu erzwingen. Verschuldung war im ersten Jahrhundert eines der ernstesten sozialen Probleme in Palästina. In den Gleichnissen Jesu wimmelt es von Schuldnern, die um Kopf und Kragen kämpfen. Dabei handelte es sich aber keineswegs um eine Art von Naturkatastrophe, die die Unfähigen traf. Der Zustand war vielmehr die direkte Folge der römischen Besatzungspolitik. Die kaiserlichen Steuern zur Finanzierung der Kriege hatten die Wohlhabenden so empfindlich geschröpft, dass die Reichen auf den Erwerb von Immobilien aus waren, um ihren Besitzstand zu sichern. Land war die beste Investition für die Reichen. Aber dabei gab es ein Problem: Es wurde nicht auf dem freien Markt gehandelt wie bei uns heutzutage, sondern befand sich über Generationen hin in Erbbesitz. Zumindest in Palästina gab es nur wenig käuflichen Grund und Boden. Horrende Zinsen konnten jedoch benutzt werden, um Grundeigner in immer tiefere Verschuldung zu treiben, bis sie schließlich ihr Land doch veräußern mussten. Zurzeit Jesu ist dieser Prozess bereits weit fortgeschritten: es gibt riesige Güter (Latifundien), die abwesenden Großgrundbesitzern gehören und die von Verwaltern geführt und von Knechten, Kleinpächtern und Tagelöhnern bewirtschaftet werden. Es ist kein Zufall, dass die erste Tat der jüdischen Revolutionäre im Jahre 66 n. Chr. darin bestand, den Tempelschatz zu verbrennen, bei dem auch die Schuldbücher aufbewahrt wurden. In diesem Kontext redet Jesus. Die Armen sind es, die ihm zuhören (»Wenn dich jemand vor Gericht zieht ...«). An ihnen allen nagt der Hass auf ein System, das sie demütigt, indem es ihnen das Land und ihren Besitz wegnimmt und sie schließlich buchstäblich bis aufs Hemd auszieht.

Weshalb also rät Jesus den Armen, auch noch das Untergewand herzugeben? Das heißt ja nichts anderes, als sich vollends zu entblößen und splitterfasernackt aus dem Gerichtsgebäude zu laufen! Wenn wir uns in den Schuldner hineinversetzen, dann können wir uns vorstellen, welches Gekicher diese Aufforderung Jesu ausgelöst haben muss. Hier steht der Gläubiger, puterrot vor Verlegenheit, deinen Mantel in der einen Hand deine Unterwäsche in der anderen! Plötzlich hast du den Spieß umgedreht. Zuvor hattest du keine Hoffnung, den Prozess zu gewinnen, denn die Gesetze begünstigen alle den Gläubiger. Aber du hast dich nicht demütigen lassen und zu gleich pfiffig und fulminant gegen das System protestiert, das zu solcher Verschuldung führen muss. Du hast durch diese symbolische Handlung nonverbal gesagt: »Du willst mein Gewand? Hier, nimm gleich alles! Jetzt hast du alles, was ich habe, bis auf mein nacktes Leben. Willst du das als Nächstes haben?«

Nacktheit war in Israel tabu. Die Schande traf aber nicht die entblößte Partei, sondern die Person, die solche Entblößung anschaute oder verursachte (1.Mose/ Genesis 9,20-27). Durch deine Selbstentblößung hast du den Gläubiger zu demselben Sittenverstoß gezwungen, der einst den Fluch über Kanaan brachte. Wenn du nackt durch die Straßen spazierst, werden deine Freunde und Nachbarn überrascht und entgeistert fragen, was das soll. Du erklärst die Lage. Sie schließen sich der Prozession hinter dir an, die immer größer wird und schließlich einer Siegesparade gleicht. Dadurch wird das gesamte System, das die Schuldner unterjocht, öffentlich demaskiert. Es wird offenbar, dass der  Gläubiger kein ehrbarer Kreditgeber ist, sondern zu einer Partei gehört, die eine gesamte soziale Klasse zu Landlosigkeit und bitterster Not verurteilt. Diese Demaskierung ist aber mehr als nur eine Art Bestrafung; sie bietet vielmehr dem Gläubiger die Chance, die Folgen seiner Praktiken, vielleicht erstmals, buchstäblich vor Augen zu haben und möglicherweise Buße zu tun.

Jesus leitet tatsächlich dazu an, den Narren zu spielen. Darin beweist er sich als Vollblutjude. Ein späteres Sprichwort aus dem Talmud lautet: »Wenn dich dein Nächster Esel nennt, dann schnall dir einen Sattel um.«

Die herrschenden Kreise stehen und fallen schließlich mit ihrer Würde. Nichts entmachtet sie schneller als gelungene Veralberung. Wenn sich die Machtlosen weigern, die Macht der Herrschenden anzustaunen und vor ihr zu kuschen, dann reißen sie damit die Initiative an sich, auch wenn strukturelle Veränderungen noch nicht möglich sind. Diese Botschaft ist alles andere als der Aufruf zu einer Vollkommenheit, die in diesem Leben unerreichbar ist (so wurde die Bergpredigt ja weitgehend fehlinterpretiert); es handelt sich vielmehr um eine praktikable strategische Maßnahme, um den Entrechteten Macht zu verschaffen. Jesus weist darauf hin, wie mit dem gesamten System so verfahren werden kann, dass seine Grausamkeit entlarvt und sein Schein von Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Hier ist plötzlich ein Armer, der es nicht länger hinnimmt, sich von den Reichen wie ein Schwamm bis zur völligen Vertrocknung auspressen zu lassen. Er nimmt Gesetze zunächst hin, wie sie sind, über-erfüllt sie bis an jenen Punkt, wo sie sich selbst ad absurdum führen und offenbart so, was sie wirklich sind. Er entblättert sich total, verlässt vor den Augen seiner Mitstreiter den Ort des Geschehens und lässt seinen Gläubiger einfach stehen - und mit ihm das gesamte ökonomische Gebilde, das er repräsentiert. Dachte vielleicht Johan Stander, der »übergelaufene« weiße südafrikanische Geschäftsmann, an diesen Abschnitt, oder hatte er einfach alles satt, als er im April 1986 vor dem Rathaus von Port Elisabeth während einer Demonstration gegen die Apartheid die Hosen runterließ? (Weekly Mail, 25.4.-1.5.1986, 5)

Das dritte Beispiel Jesu, jenes über die zweite Meile, bezieht sich auf die clevere Praxis der Römer, jenes Maß von Zwangsarbeit, das römische Soldaten Bürgern des Besatzungsgebietes aufbürden konnten, zu begrenzen. Wirklichen Legionären begegneten Juden selten, außer in Kriegs- und Aufstandszeiten. Es handelte sich vielmehr um Hilfstruppen, die in Judäa stationiert waren und nur den halben Sold der Legionäre erhielten - eine ziemlich raue Horde übrigens! In Galiläa hielt sich Herodes Antipas eine Armee nach römischem Muster; wahrscheinlich hatte auch sie das Recht, Hand- und Spanndienste zu erzwingen. Meilensteine waren in regelmäßigen Abständen an den  Straßenrändern aufgestellt. Ein Soldat durfte einen Zivilisten auffordern, sein Gepäck eine Meile zu tragen; jeder Versuch, ihn zu einem weiteren Weg zu zwingen, wurde vom Militärgesetz strengstens geahndet. Auf diese Weise versuchte Rom, die Wut des besetzten Volkes zu begrenzen und gleichzeitig die kaiserliche Armee mobil zu halten. Dennoch war diese Auflage eine ständige bittere Erinnerung daran, dass die Juden selbst im Gelobten Land ein unfreies Volk waren.

Diesem stolzen aber unterjochten Volk rät Jesus nicht zum Aufruhr. Man kann keinen Soldaten freundschaftlich auf die Seite ziehen und ihm dann einen Dolch zwischen die Rippen jagen. Jesus war sich ganz klar darüber, dass jede bewaffnete Revolte gegen die römische Besatzungsmacht zwecklos war und verlor nie ein Wort in diese Richtung, obwohl ihn das sicher die Sympathie revolutionärer Kreise gekostet hat. Aber weshalb sollte man die zweite Meile gehen? Bedeutet das nicht, ins andere Extrem zu verfallen und dem Feind Vorschub zu leisten? Überhaupt nicht. Auch hier geht es wie in den beiden vorigen Beispielen um die Frage, wie die Unterdrückten die Initiative  zurückbekommen - wie sie also in einer Situation, die in absehbarer Zeit mit gängigen Mitteln nicht veränderbar ist, ihre menschliche Würde wahren können. Die Regeln sind Sache des Kaisers, aber wie man mit den Regeln umgeht, das ist Sache Gottes. Der Kaiser hat keine Macht darüber. Man stelle sich die Überraschung des Soldaten vor, der sich beim nächsten Meilenstein mürrisch sein Gepäck angeln will (30 bis 40 Kilogramm Gesamtgewicht!) und gesagt bekommt »Ach nein, lass es mich noch eine Meile tragen«. Weshalb könnte jemand das tun? Worauf läuft das hinaus? Normalerweise muss der Soldat die Leute zwingen, seinen Tornister zu schleppen - und jetzt tut es einer freudig und kann gar nicht mehr aufhören! Ist das eine Provokation? Ein Affront gegen seine Stärke? Einfach Freundlichkeit? Oder der Versuch, den Legionär vor den Kadi zu bringen, weil dieser jemanden die Last länger tragen lässt als erlaubt? Einmal mehr ist eine Situation serviler Zwangsarbeit verändert worden. Der Unterdrückte hat selbst die Initiative in die Hand genommen. Der Soldat gerät außer Fassung, weil er einer unvorhersagbaren Reaktionsweise begegnet. Nie zuvor musste er sich mit solch einem Problem auseinander setzen. Nun ist er gezwungen, eine Entscheidung zu fällen, auf die ihn nichts aus seiner bisherigen Erfahrung vorbereitet hat. Sollte er es bis zu diesem Zeitpunkt genossen haben, über dem unterjochten Lastenträger zu stehen, wird es ihm jetzt keinen Spaß mehr machen. Man stelle sich die köstliche Situation vor, wie ein römischer Infanterist einen Juden anbettelt: »Ach komm doch, bitte, gib mir meinen Tornister wieder!« Wie grotesk diese Szene ist, mag jenen entgehen, die die Worte Jesu mit allzu frommem Augenaufschlag meditieren. An dem Publikum Jesu jedenfalls dürfte das kaum spurlos vorübergegangen sein. Sie haben sich sicherlich an der Vorstellung geweidet, ihre Unterdrücker auf solch eine Weise aus der Fassung zu bringen.

Manche Leser mögen sich ihrerseits unwohl fühlen bei dem Gedanken, einen Soldaten aus der Fassung oder einen Gläubiger in Verlegenheit zu bringen. Aber können Menschen, die an der Unterdrückung direkt beteiligt sind, Buße tun, ohne sich zuvor bei ihren Aktionen ungemütlich zu fühlen? Es gibt zugegebenermaßen die Gefahr, Gewaltlosigkeit aus Taktik der Vergeltung oder Demütigung zu benutzen. Aber im anderen Extremfall gibt es die gleich große Gefahr der Sentimentalität und Verweichlichung, die kompromisslose Liebe mit Nettigkeit verwechselt. Liebevolle Konfrontation hingegen kann sowohl den Unterdrückten von seiner Unterwürfigkeit befreien als auch den Unterdrücker von seiner Sünde. Selbst wenn die gewaltlose Aktion das Herz des Unterdrückers nicht augenblicklich verändert, macht sie doch etwas mit jenen, die sie  durchführen. Wie Martin Luther King bezeugt, gibt die Gewaltlosigkeit ihren Anhängern ein neues Selbstwertgefühl und aktiviert in ihnen Quellen der Kraft und des Mutes, die ihnen vorher selbst unbekannt waren. Den Machthabern mag der Rat Jesu an die Machtlosen lächerlich vorkommen. Aber für jene, die bisher nichts anderes kannten als vor den Herren zu katzbuckeln, zu kriechen und sich klein zu machen, weil sie sich selber so minderwertig vorkamen, ist dieser kleine Schritt höchst bedeutsam. So ist es zum Beispiel für schwarze Putzfrauen in Südafrika sehr wichtig, wenn sie sich zusammentun, um gemeinsam einen Schritt zu wagen, der ihnen bisher fast unmöglich schien: nämlich ihre Arbeitgeber mit Vornamen anzureden (wie diese es mit ihnen schon immer tun).

Diese drei Beispiele illustrieren, was Jesus meint, wenn er fordert: »Setzt dem Bösen keine Gewalt entgegen!« Anstatt jener zwei Möglichkeiten, die - nach Millionen von Jahren unreflektierter roher Gewalt gegenüber den natürlichen Bedrohungen der Umwelt - tief in uns verwurzelt sind (Kampf oder Flucht!), bietet uns Jesus seinen Dritten Weg an. Dieser neue Weg markiert einen Entwicklungsschritt in der Menschheitsentwicklung, der historische Dimensionen hat. Es ist die Revolte gegen das Prinzip »der natürlichen Selektion« (Gerd Theissen: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984, 143-151). Mit Jesus eröffnet sich ein Weg und eine Möglichkeit, wie dem Bösen widerstanden werden kann, ohne es einfach nur selbst widerzuspiegeln.

in: Schritte gegen Tritte, Ein ökumenisches Lernprojekt für Schulen und Gemeinden, hrsg. vom Evangelischen Missionswerk in Deutschland (EMW) in Zusammenarbeit mit dem Evangelisch-lutherischen Missionswerk in Niedersachen, Hamburg 1999, S. 40ff. Im Frühjahr 2001 erscheint eine überarbeitete 2. Auflage.